Inicjatywa Pracownicza: Perspektiven des Klassenkampfes in Polen zu Zeiten der Pandemie

Die COVID-19-Pandemie breitet sich auch im östlichen Nachbarland Polen aus. Dort versucht die rechtspopulistische PiS-Regierung der Krise Herr zu werden. Doch gegen deren Krisenlösungsstrategie auf dem Rücken der Arbeiter*innen wehrt sich die Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (IP, zu Deutsch: Arbeiterinitiative). Ihre Kritik hat die Gewerkschaft in einem Positionspapier formuliert, das dem Interview unten angefügt ist. Um dieses Positionspapier besser einordnen zu können, haben wir uns mit Vertreterinnen der IP aus Poznan über ihre Gewerkschaft selbst, die massiven Kürzungen im Gesundheitssystem, die wirtschaftsfreundliche Strategie der PiS-Regierung und Perspektiven des Klassenkampfes in Polen ausgetauscht. Das Interview fand dabei per Mail und in englischer Sprache statt.

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Zu Beginn würden wir euch bitten, uns ein bisschen mehr von eurer Gewerkschaft, der IP zu erzählen. Welche Rolle spielt sie im polnischen Gewerkschaftssystem? In welchen Branchen habt ihr Einfluss auf die Arbeiter*innenklasse?

Die IP wurde in den frühen 2000er Jahren von Arbeiter*innen im Bereich der Lohnarbeit gegründet. Sie stellt den Versuch eines Gegenentwurfs zu den kompromissorientierten großen gelben Gewerkschaften, die bei der Shock Therapie widerstandslos mitgegangenen waren, dar.[1] Immer und immer wieder wiederholten sie die Phrase, dass man „den Gürtel enger schnallen müsse“ oder „mit den Bossen in einem Boot sitzt“. Dann kam es zu einer Welle von Arbeitskämpfen gegen Betriebsschließungen und Sozialkürzungen. Diese waren jedoch nicht von einer Gewerkschaft organisiert worden. 2004 gründeten dann Arbeiter*innen vom Schiffsmotorenbauer Cegielski in Poznan die IP. Hierbei wurden sie von klassenorientierten anarchistischen Aktivist*innen unterstützt. In der Folge wurden andere Betriebsgruppen in anderen Sektoren und Städten gegründet. Mittlerweile hat die IP fast 4.000 Mitglieder in 70 Betriebsgruppen, wobei man 10 Arbeiter*innen braucht, um eine Gruppe zu gründen. Einige unserer Betriebsgruppen sind viel größer – zum Beispiel unsere Gruppe bei Amazon, aber auch in der Volkswagen-Fabrik in Poznan. Außerdem sind wir im öffentlichen Sektor präsent. Dort organisieren wir Installateure, Erzieher*innen in Kitas und nicht-medizinisches Personal im Krankenhaus. Weitere Branchen, in denen wir tätig sind, ist das Baugewerbe, der Kultursektor und bei NGOs.

Im Augenblick finden spannende Entwicklungen im Logistiksektor statt. Wir haben inzwischen Betriebsgruppen in den Warenlagern der Kosmetikhersteller Avon und L‘Oreal, dem Möbellieferanten Westwing sowie dem Wärme- und Kältetechniker Danfoos. Hierbei muss erwähnt wurden, dass sich Polen in den letzten Jahren zu einer riesigen Warenlagerzone für den westeuropäischen Markt entwickelte. 

Wenn man nur nach den Zahlen geht, sind wir keine große Gewerkschaft, aber wir sind sichtbar und oft Ansprechpartnerin, wenn eine Perspektive aus der Arbeiter*innenklasse gesucht wird, die vom Weg der Sozialpartnerschaft der großen Gewerkschaften abweicht. Unser Statement zu COVID-19 wurde auch für die Mainstream-Medien ein Bezugspunkt. Diese luden auch Mitglieder*innen von uns ein.

2019 riefen wir schließlich eine Föderation, bestehend aus der IP und kleineren Gewerkschaften, ins Leben. Sie heißt Zjednoczeni (zu Deutsch: Gemeinsam). Diesen Gewerkschaften ist gemein, dass sie entweder solche Arbeiter*innen organisieren, für die sich die großen Gewerkschaften  nicht interessieren (Reinigungspersonal, Sicherheitsdienste, outgesourcte Arbeiter*innen) oder solche Arbeiter*innen, die in direkter Opposition zu den großen Gewerkschaften stehen. Sie wollen selbst aktiv werden, protestieren und ihren Standpunkt auch selbst vertreten.

Lasst uns nun zu euren Forderungen kommen. Um sie besser zu verstehen, würde uns interessieren: Wie ist in Polen die Lage bezüglich der COVID-19-Pandemie? In welchem Zustand befindet sich das polnische Gesundheitssystem?

Der öffentliche Gesundheitsetat in Polen ist einer der kleinsten in ganz Europa. In den 2000ern schlossen einige Krankenhäuser, die bankrott gegangen waren. Einige wurden privatisiert, andere, denen es an Geldern oder Personal mangelte, wurden geschlossen. Auch unsere Gewerkschaft war in den Kämpfen des Krankenhauspersonals beispielsweise in Kostrzyn (zu Deutsch: Kotschin), das nahe an der deutschen Grenze liegt, beteiligt. Dort war das öffentliche Krankenhaus bankrott gegangen und konnte noch nicht einmal mehr die Löhne des Personals für einen vollen Monat zahlen. Wir organisierten Proteste gegen die Lokalregierung.

Generell sind die Löhne von Ärzt*innen, Pflegekräften, Rettungssanitäter*innen und nicht-medizinischem Personal sehr niedrig. Viele – vor allem junge Menschen – gehen seither ins Ausland. Das Durchschnittsalter von Pflegekräften in Polen liegt demnach bei 55 Jahren. Es gibt eine ganze Armee von selbstständigen Rettungssanitäter*innen. Die Krankenwagenfahrer*innen sind also selbstständig. Viele Krankenpfleger*innen, die eigentlich schon das Renteneintrittsalter erreicht haben, müssen weiterarbeiten, weil die Jüngeren Polen verlassen haben.

Wir beobachten seit 2008 Bemühungen, um die Arbeitsbeziehungen im Gesundheitssektor zu flexibilisieren. Hierbei gab es auch Versuche, das Streikrecht einzuschränken. Dies war wiederum die Reaktion auf Arbeitskämpfe von Krankenpfleger*innen. So gab es 2018 größere Proteste von jungen Ärzt*innen, die sich gemeinsam weigerten, Überstunden zu leisten. Zugleich forderten sie höhere Löhne und eine Anhebung des Gesundheitsetats auf 6% des BIP, was noch nicht einmal besonders viel wäre im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Die Regierung versprach, die Arbeitsbedingungen zu ändern und unterschrieb eine Vereinbarung mit den jungen Ärzt*innen. Geändert hat sich allerdings bisher nichts.

Auch die öffentlichen Pflegeeinrichtungen wie Altenheime sind deutlich unterfinanziert. Jetzt bekommen wir die Folgen zu spüren: In all diesen Einrichtungen fehlen Handschuhe, fehlen Mundschutzmasken und fehlt es an Personal. Es gibt bereits dutzende mit Covid19 infizierte Pfleger*innen und Bewohner*innen.

Lasst uns nochmal ein bisschen auf die PiS (Prawo i Sprawiedliwość, zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit) eingehen. Die Regierung der PiS gilt als Vorzeigemodell dahingehend, dass sie sozialdemokratische und nationalistische, ultrakonservative und antifeministische[2] Politik zusammenbringt. Welches Gesicht zeigt die PiS-Regierung in der COVID-19-Pandemie?

Im Gegensatz zu anderen rechtspopulistischen Regierungen hat die PiS Sozialprogramme nicht nur versprochen, sondern auch umgesetzt. So haben sie ein Kindergeld – die hier berühmten 500 Zloty (~110,20€) – eingeführt. Wobei erwähnt werden muss, dass diese Leistung nicht inflationsbereinigt wird. Dann führte die Regierung einen Mindestlohn für Selbstständige ein, und erhöhte kräftig die bestehenden Mindestlöhne. Auch das Renteneintrittsalter wurde von 67 auf 60 für Frauen und 65 für Männer herabgesetzt.

Doch all diese sozialen Wohltaten zielen auf die Individuen, während die kollektiven Formen sozialer Reproduktion wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser unterfinanziert bleiben. Nach wie vor sind die Löhne im öffentlichen Sektor im Vergleich zum Privatsektor niedrig. Hierin liegt ja der Grund für die Streiks von Lehrer*innen, Angestellten der öffentlichen Verwaltung und den bereits erwähnten jungen Ärzt*innen.

Jetzt folgt die PiS derselben Logik wie die liberale Regierung der Bürgerplattform (PO) während der Finanzkrise 2008. Derzeit wird viel davon gesprochen, dass der Staat die Unternehmen unterstützen soll nach dem Motto: „Wenn der Staat die Unternehmen unterstützt, werden sie die Arbeitsplätze erhalten.“

Es gab in Polen einen Fonds, in den die Lohnabhängigen für den Fall der Erwerbslosigkeit einzahlen. Dieser Fonds wurde nun den Unternehmen überlassen, während die Erwerbslosen oder Arbeiter*innen, deren Löhne gekürzt wurden, in der Krisengesetzgebung mit keinem einzigen Wort erwähnt werden. Die Zeit der Illusionen ist vorbei: Auch die PiS folgt letztlich den selben Ratschlägen liberaler Ökonom*innen. Diese Politik, die ja im Prinzip schon seit 2008 betrieben wird, macht die aktuelle Krise noch schlimmer. Sie förderte prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Arbeitsverträgen, usw. „Systemrelevante“ Arbeiter*innen in den Warenlagern und Supermärkten sind oft über Zeitarbeitsfirmen eingestellt. Selbst wenn diese Arbeiter*innen krank sind, kommen sie zur Arbeit. Sie stehen unter einem besonders hohen Druck, die Arbeitsvorgaben zu erfüllen, weil andernfalls ihre Verträge nicht verlängert werden.

Aber die PiS konzentriert sich gerade vor allem auf die Vorbereitung der Präsidentschaftswahl im Mai, deren Durchführung höchst umstritten ist. Hierbei könnte es sich allerdings auch um ein Ablenkungsmanöver von den wirtschaftlichen Problemen handeln. Während sich Opposition und Medien nur noch auf dieses Thema konzentrieren, üben sie nur wenig Kritik an der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik. Diese steht gerade im Hintergrund.

Ihr formuliert in eurem Text verschiedene Forderungen an die Regierung. Wie schätzt ihr gegenwärtig die Chancen der Arbeiter*innenklasse ein, diese Forderungen durchzusetzen?

Es ist im Moment noch zu früh, um das eindeutig zu sagen. Die meisten Menschen warten noch die aktuellen Entwicklungen ab. Leider hören wir schon jetzt von betriebsbedingten Entlassungen, oder davon, dass Arbeiter*innen gezwungen werden, ihren Urlaub vorzuziehen, oder von Lohnkürzungen. Das alles kann die Verhandlungsmacht der Arbeiter*innen schwächen. Vor allem die Bevölkerung von kleineren Städten ist besorgt.

Es ist auch gerade extrem schwer, zu protestieren und Kolleg*innen zu organisieren: Öffentliche Veranstaltungen wurden verboten. Selbst wenn man nur spazieren geht oder im Park sitzt, greift die Polizei hart durch und belegt die Leute mit Strafen. So kostet es 30.000 Zloty (~6599,25€), wenn man die Quarantäne bricht, oder 5.000 Zloty (~1099,88€), wenn man das Haus ohne triftigen Grund verlässt. Dabei müsst ihr bedenken, dass der polnische monatliche Mindestlohn 1920 Zloty (~422,35€) beträgt. 

Jene Arbeiter*innen, die privilegiert sind und unbefristete Verträge haben, gehen einfach nicht zur Arbeit, wenn sie sich dort nicht mehr sicher fühlen. Das ist noch ziemlich einfach und man bekommt eine Lohnfortzahlung von 80%. Zudem kriegt man Krankschreibungen neuerdings auch telefonisch vom Arzt. Uns wurde zugetragen, dass der inoffizielle Krankenstand bei Amazon derzeit bei 40% liegt.

Ziemlich viele Leute, die zuvor unorganisiert waren, kommen jetzt auf uns zu, weil es in der Krisen-Gesetzgebung heißt, dass die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen mit den Vertreter*innen der Gewerkschaften besprochen werden müsse, sodass die Leute jetzt fragen, wie sie damit beginnen können. In der letzten Woche entwarf die IP einen Aufruf an andere Gewerkschaften. Es gibt nun eine schüchterne Diskussion über die nächsten Schritte: Wie können wir schnellstmöglich wieder raus auf die Straße? Wir müssen abwarten und beobachten, wie die Arbeiter*innenklasse reagiert: Ihre Lage hat sich verbessert in den letzten Jahren, was mit der sinkenden Erwerbslosenrate zusammenhängt. Man sagte allgemein, dass der Arbeitsmarkt jetzt den Arbeiter*innen gehört, weil sie sehr schnell den Job wechseln und dadurch die Bosse unter Druck setzen können. Das kann sich natürlich ändern, und wir müssen abwarten, ob die Arbeiter*innen diese Veränderungen leicht verdauen oder ob wir zumindest defensive Kämpfe erleben werden.

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Erklärung des nationalen Komitees der IP

Der Gewerkschaft OZZ Inicjatywa Pracownicza in Reaktion auf die Notfallmaßnahmen der polnischen Regierung im Angesicht der Corona-Krise[3]

In Reaktion auf die durch die Corona Pandemie ausgelöste Krise hat die polnische Regierung eine Reihe von Notfallmaßnahmen beschlossen, die sie als „Anti-Krisen Schtzschild“ bezeichnet. Sowohl die Summe, die dieses „Schild“ zur Erleichterung der Lage bereitstellt, als auch die Hilfsmaßnahmen sind nicht ausreichend, sondern  regelrecht fehlgeleitet. Viele der Maßnahmen des „Schutzschildes“ werden zu Lohnsenkungen führen, die Gewerkschaften schwächen und uns Arbeiter*innen den Bossen noch mehr ausliefern als wir es jetzt schon sind. Wir lehnen alle Lohnkürzungen kategorisch ab: Die Arbeiter*innen werden nicht schon wieder die Kosten der Krise zahlen. Im Folgenden haben wir die schlimmsten Ideen und Fehltritte der Regierung zusammengetragen. Danach präsentieren wir eine Liste von 10 Forderungen, die erfüllt und sofort implementiert werden müssen.

Die schlechtesten Ideen und Fehler im „Anti-Krisen Schutzschild“ der Regierung:

1. Ein großer Teil der arbeitenden Bevölkerung in Polen hat keinerlei Jobsicherheit. Viele sind Gelegenheitsarbeiter*innen, die durch Zeit- oder Leiharbeitsagenturen angeheuert werden oder selbstständig sind. Diese Arbeiter*innen werden am meisten unter den Folgen der Krise leiden. Ihnen droht der Verlust von Einkommen und Unterstützungsleistungen. Das „Schutzschild“ der Regierung verspricht eine einmalige Zahlung von 2.000 Zloty brutto (~435€) für prekäre Arbeiter*innen in Not. Vor dem Hintergrund der Prognosen, dass die Krise mehrere Monate andauern könnte, bietet diese Leistung keine wirkliche Unterstützung.

2. 2,5 Millionen prekäre Arbeiter*innen in Polen sind nicht krankenversichert oder haben gar keinen Zugang zur Krankenversicherung. Dadurch können sie keine bezahlten Krankheitstage nehmen. Diejenigen mit Zugang zur Grundversorgung müssen zahlen, wenn sie einen Spezialisten aufsuchen oder ins Krankenhaus müssen. Der Ausbruch von Covid-19 zeigt, dass das Recht auf Gesundheit im Interesse aller liegt. Aber das „Schutzschild“ der Regierung beinhaltet keinerlei spürbare Veränderungen in dieser Angelegenheit.

3. Die Regierung versucht die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Sicherung der Arbeitsplätze zu fokussieren. Dies dient der Rechtfertigung für riesige Subventionen an die Unternehmer. Mit dem „Schutzschild“-Rettungspaket erhalten die Unternehmen Lohnsubventionen während der Einschränkungen und die rechtliche Möglichkeit, die Löhne der Arbeiter*innen bis um die Hälfte zu senken! Dadurch sind die Unternehmen die wirklichen Nutznießer der Regierungsmaßnahmen, die die Kosten in letzter Instanz uns, den Arbeiter*innen, aufbürden.

4. Die Änderungen, die das „Schutzschild“ für das Arbeitsrecht vorsieht, verleiht den Arbeitgebern große Spielräume, um die Arbeit nach ihrem Gutdünken umzugestalten (vor allem was die Arbeitszeit oder Phasen ökonomischer Flauten angeht). In einem Land, in dem Gewerkschaften und alle Formen der Arbeiter*innenkontrolle systematisch bekämpft wurden, bedeutet dies, dass es keine soziale Kontrolle über die Zuwendungen gibt, die die Unternehmen vom Staat erhalten. Zudem bedeutet es, dass die Arbeiter*innen größere Probleme haben, sich gegen die Versuche der Bosse zu wehren, „Anti-Krisen-Maßnahmen“ durchzusetzen […].

5. Mit keinem Wort erwähnt die Regierung das Thema der Arbeitslosenunterstützung. Während Phasen hoher Arbeitslosigkeit in der Vergangenheit haben die Gewerkschaften immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass das Arbeitslosengeld zu niedrig und der Bezugszeitraum zu kurz ist. Beispielsweise hatten im Dezember 2019 nur 16,4% der registrierten Arbeitslosen drei Monate lang Anspruch auf Arbeitslosengeld in Höhe von 741,87 Zloty netto [~163 €]. Wir haben es mit einer ernsthaften Krise zu tun. Die Regierung muss verstehen, dass viele Leute ihre Jobs verlieren werden und Einkommen benötigen, um zu überleben.

6. Arbeiter*innen, die keinen sicheren Arbeitsplatz haben (Gelegenheitsarbeiter*innen, Zeitarbeiter*innen, befristet Beschäftigte und Selbständige), sind mit einer massiven Entlassungswelle konfrontiert. Die Entlassungen betreffen prekäre Arbeiter*innen in Branchen wie der Gastronomie, dem Tourismus, der Unterhaltung und in outgesourcten Bereichen des öffentlichen Dienstes. Die Krise hat den zutiefst unsozialen Charakter von prekären Arbeitsverhältnissen aufgezeigt. Derweil lautet die Botschaft der Regierung an diese Arbeiter*innen: „Sie hätten selbst für Ihre Versicherung Sorge tragen sollen.“ Als ob dies für Arbeiter*innen ohne jegliche Arbeitsplatzsicherheit tatsächlich möglich wäre.

7. Wir sagen „Nein“ zu allen Veränderungen, die darauf abzielen, die Arbeit noch flexibler zu gestalten (z.B. durch die Verlängerung von Bezugszeiträumen). Schon in den letzten drei Jahrzehnten war die typische Reaktion der Regierung auf die Krise (sowohl die tatsächliche als auch die vermutete), die Arbeit flexibler zu gestalten. Diese Praxis hatte katastrophale Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsicherheit. Heute bestätigt die Regierung, dass sie nur innerhalb des Kanons der neoliberalen Wirtschaftspolitik agieren kann, die letztlich immer versucht, die Position der Arbeiter*innen auf dem Arbeitsmarkt zu schwächen.

8. Der „Schutzschild“ geht das wachsende Problem der niedrigen Renten nicht an. Er bietet auch älteren Arbeiter*innen keinen Schutz vor den Folgen der Krise.

9. Im „Schutzschild“ geht es kaum um den Schutz der Haushaltbudgets gegen die steigenden Lebenshaltungskosten, wie steigende Lebensmittelpreise und Mieten. Ebenso wenig berücksichtigt die Regierung die Folgen von Einkommensverlusten, wie z.B. Mietschulden, Hypothekenschulden, Schulden auf Grundrechnungen wie Gas, Strom und Heizung oder drohende Zwangsräumungen oder Zwangsversteigerungen.

10. Der Plan der Regierung kommt zu einer Zeit, in der die demokratischen Entscheidungsverfahren ausgesetzt sind. In der Tat haben wir in diesen äußerst wichtigen Fragen kein Mitspracherecht. Wir befürchten, dass jegliche Unterstützung vor allem dem Bankensektor, dem größten Akteur in der heutigen Politik, zugute kommt. Schon jetzt geht ein großer Teil des Hilfspakets von 212 Milliarden Zloty (~46 Milliarden €) an den Finanzsektor. In der vorangegangenen Wirtschaftskrise (2007-2008) wurde derselbe Bankensektor nicht durch Milliarden, sondern buchstäblich Billionen von Dollar und Euro gestützt. In der gegenwärtigen Krise trägt der Finanzsektor in keiner Weise zur Rettung der Wirtschaft bei, sondern zieht sie vielmehr nach unten. Es ist ein Skandal, dass die herrschende Klasse keine Schlüsse aus der vergangenen Krise gezogen hat und sich heute erneut von der Finanzwirtschaft erpressen lässt. Im Grunde ist das Problem, dass die Banken (die privaten und die kommerziellen) im Besitz unserer Gehälter sind, was uns ihrem Druck und ihrer Erpressung aussetzt. Dementsprechend hat die Polnische Nationalbank in Absprache mit der Regierung beschlossen, die Liquidität der Banken zu erhöhen, indem sie sie von der Verpflichtung zur Bildung von Rücklagen (40 Milliarden Zloty) befreit hat.

11. Die aufeinander folgenden neoliberalen Regierungen (darunter die regierende PiS, die zweimal an der Macht war) haben die Bedürfnisse des öffentlichen Gesundheitssystems, der Sozialdienste und anderer Pflegedienste für ältere und pflegebedürftige Menschen systematisch ignoriert. Infolge der jahrelangen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben sind diese Schlüsselbereiche heute nicht auf den bevorstehenden Kampf vorbereitet. Das polnische Gesundheitssystem bricht unter dem Gewicht von mehreren hundert Personen, die zusätzlich ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, zusammen! Vernachlässigung, zusammen mit den langfristigen Auswirkungen der Sparpolitik im öffentlichen Sektor, könnte nun zu einem groß angelegten epidemiologischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch führen.

12. Der „Schutzschild“ bietet keine Unterstützung für zu betreuende und zu pflegende Personen (von Kindern, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen), die jetzt mit dem schwierigen Zugang zu Medikamenten, Behandlung und Rehabilitation zu kämpfen haben.

Anstelle des „Anti-Krisen-Schutzschildes“ der Regierung stellen wir folgende Forderungen:

1. Die vorübergehende Schließung großer Betriebe, die während der Epidemie nicht notwendig sind und die aufgrund ihrer Arbeitsorganisation eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen (Lagerhäuser und Fabriken, die keine Produkte der medizinischen Versorgung oder Lebensmittel liefern oder herstellen). Die Arbeiter*innen sollten für diese Zeit die komplette Lohnfortzahlung erhalten. Im Gegenzug sollten die Behörden sicherstellen, dass die Unternehmen die Beschäftigten nicht in den „Zwangsurlaub“ schicken.

2. Ein Sozialleistungssystem, das allen ein Einkommen garantiert, die nicht arbeiten können. Dieses System sollte auch einen allgemeinen, bedingungslosen Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen. Die gegenwärtige Krise sollte genutzt werden, um das gesamte Sozialhilfesystem so umzugestalten, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung zu einem grundlegenden, universellen Recht wird, das nicht an eine bestimmte Beschäftigung gebunden ist. Zudem sollte so ein organisiertes System das Einkommen und das Recht auf eine eigene Wohnung für jeden garantieren.

3. Die Kontrolle der Arbeiter*innen am Arbeitsplatz muss eingeführt und verstärkt werden. Jegliche Unterstützung sollte den Arbeiter*innen selbst zukommen.

4. Das Arbeitslosengeld muss erhöht und über einen längeren Zeitraum gezahlt werden. Alle Personen im erwerbsfähigen Alter, die keine Arbeit haben, müssen einen rechtlichen Anspruch auf diese Leistung haben.

5. Alle Formen der prekären Arbeit sind zu beseitigen. Erzwungene Verträge, befristete Verträge, Selbständigkeit, Zeitarbeitsfirmen und Zeitarbeit im Allgemeinen übertragen die mit einer Krise (Wirtschafts-, Umwelt- oder Gesundheitskrise) verbundenen Risiken auf die Schultern der Lohnabhängigen. Dies dient nur dazu, die Ausbeutung zu erhöhen. Diese Epidemie beweist, dass die einzig akzeptable Form der Beschäftigung ein unbefristeter Arbeitsvertrag ist/sein sollte (dem höchstens ein Arbeitsvertrag auf Probezeit vorausgeht).

6. Sicherung des solidarischen Rentensystems und Anhebung der Mindestrente. Das Ziel sollte ein Rentensystem sein, das es den Rentner*innen erlaubt, die Lebenshaltungskosten zu decken, so dass es nicht notwendig ist, „nebenbei zu arbeiten, weil die Rente zu gering ist“.

7. Ein Einfrieren der Mieten und Hypothekenzahlungen. Zwangsräumungen sind auszusetzen und ein freier Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen (Strom, Gas, fließendes Wasser und Heizung) für alle sicherzustellen. Es muss zudem eine Soforthilfe für die Zehntausenden von Menschen, die mit Obdachlosigkeit konfrontiert sind, geben.

8. Der Banken- und Finanzsektors muss ebenso wie die während der Epidemie kritischen Branchen wie Gesundheit und Transport verstaatlicht oder unter eine andere Form der sozialen Kontrolle gebracht werden.

9. Im Staatshaushalt muss die Finanzierung des öffentlichen Gesundheitssystems oberste Priorität haben.

10. Für den Pflegesektor ist ein finanzielles Förderprogramm einzurichten, so dass dieser den Bedürfnissen sowohl der Angehörigen als auch der Pflegekräfte entspricht.

Für die zusätzlichen Kosten dieser Programme dürfen nicht die Lohnabhängigen mit ihren Gehältern aufkommen! In den letzten 30 Jahren floss mehr als die Hälfte des erwirtschafteten Reichtums in Form von Profiten aufs Konto der Unternehmer und Bosse. Heute, wenn Geld für Arbeitslosengeld oder das Gesundheitssystem benötigt wird, sollten wir es in den Taschen der Bosse, Millionäre, CEOs und Banker suchen. Allein die Dividenden, die im vergangenen Jahr von den 13 größten an der polnischen Börse notierten Unternehmen an die Aktionäre gezahlt wurden, beliefen sich auf 12,3 Milliarden Zloty [~4 Milliarden €]. Das ist zehnmal mehr als die Mittel, die für den garantierten Fonds für Lohnersatzleistungen bereitgestellt werden, der die Gehälter der Arbeiter*innen im Falle einer Pleite des Arbeitgebers sichert.


[1]     Shock-Therapie ist ein Begriff der amerikanischen Autorin Naomi Klein. Sie beschreibt damit das Phänomen, dass Regierungen massive Reformprojekte im Interesse der Unternehmen in Zeiten von Krisen innerhalb kürzester Zeit versuchen durchzusetzen. Das Tempo der Reformen lähmt die sozialen Bewegungen darin, Widerstand zu leisten, weil sie in Schockstarre verfallen. Dies geschah in vielen Ostblock-Staaten einschließlich Polen, wo es in den frühen 1990ern zu einer großen Privatisierungswelle kam und staatliche Dienstleistungen stark zurückgefahren wurden; Anm. Übers.

[2]     In Polen wird seit mehreren Jahren von klerikalen und konservativen Gruppen eine Verschärfung des ohnehin sehr strikten Abtreibungsgesetzes versucht durchzusetzen. In diesem Kontext kam es in den letzten Jahren zu massiven feministischen Mobilisierungen am Frauenkampftag, dem 8. März. Derzeit, also in einer Zeit, in der auch in Polen das Versammlungsrecht stark beschnitten ist, wird im Parlament im Zuge von Bürgerbegehren wieder über die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes und eine Abschaffung des Sexualkunde-Unterrichtes diskutiert. Die Proteste mussten vor allem auf das Internet ausweichen. Wobei es zu kreativen Protesten kam, wie dem Zeigen von kritischen Transparenten in einer Einkaufsschlangendemo. Hierüber berichtete der Twitter-Account https://twitter.com/kapturak am 14. April 2020.

   Die IP selbst veröffentlichte 2018 eine empfehlenswerte Dokumentation über den Zustand des polnischen Kindergartenwesens, die Kämpfe von Erzieherinnen und die Mobilisierung zum Frauenkampftag am 2016. https://de.labournet.tv/der-frauenstreik-geht-weiter (Anm. der Übs.)

[3]     Wir haben die deutsche Version von der englischen Fassung ausgehend übersetzt. Diese findet ihr hier: http://www.ozzip.pl/english-news/item/2617-stop-gambling-with-our-lives-we-wont-be-human-shield-for-coronarcisis Viel zu spät bemerkten wir, dass bereits eine polnische Übersetzung auf der Seite der IP vorlag: http://www.ozzip.pl/english-news/item/2625-hort-auf-mit-unserem-leben-zu-spielen-wir-wollen-kein-menschlicher-schutzchild-sein

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